Kein Café, kein Kuchen und kein Theater
Das lässt einen fast vergessen, dass es auch bei uns in der reichen Schweiz hilfsbedürftige Menschen gibt – ältere Menschen, die trotz AHV und Ergänzungsleistungen (EL) in eine Notlage geraten sind. Über sie wird kaum berichtet, ihr Leben spielt sich im Versteckten, hinter verschlossenen Türen ab. Armut im Alter ist ein Tabuthema, denn Alter wird mit Reichtum gleichgesetzt. Aber: die Zahl von Menschen im Pensionsalter, die finanziell nicht über die Runden kommen, ist gestiegen.
Wer in der Schweiz arm ist, hat weniger als 3'000 CHF im Monat. So hoch ist derzeit die sogenannte Armutsgefährdungsschwelle. Unter dieser Schwelle findet man besonders häufig Arbeitslose und Alleinerziehende. Aber auch eine dritte Gruppe ist immer öfter betroffen: Vielen Rentner leben an der Armutsgrenze.
Armut im Alter: 3-Säulen-Modell als reine Theorie
Unzweifelhaft ist die Schweiz ein reiches Land, in dem es den meisten Menschen finanziell gut geht. Trotz einer in den letzten Jahren im europäischen Vergleich schwachen Vermögensentwicklung steht die Schweiz nach wie vor mit einem durchschnittlichen Netto-Geldvermögen pro Kopf von ca. 145'000 CHF und deutlichem Abstand vor den USA an der Spitze. Gleichzeitig hält der Bericht eine signifikante Zunahme der Ungleichheit der Vermögensverteilung fest. Und diese sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Das vorherrschende Bild der reichen Rentner ist einseitig und entspricht nicht die Erfahrung aus der Sozialberatung. In keiner Altersgruppe sind die Unterschiede bei Einkommen und Vermögen so gross wie bei den Senioren.
Unsichtbare Armut
Armut in der Schweiz? Dem reichsten Land der Welt? Papperlapapp. Schliesslich leben wir in einem funktionierenden Sozialstaat. AHV, IV, Pensionskasse, Arbeitslosenversicherung. Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe – alles da. Doppelt und dreifach abgesichert. Und Jobs gibt es ja auch genügend. Einverstanden, vereinzelt ein paar Obdachlose am Bahnhof, jetzt mit Corona noch ein paar dazu und vielleicht noch der eine oder andere Bettler oder Surprise-Verkäufer. Und die Asylsuchenden schwimmen auch nicht im Geld. Aber Armut im grösseren Stil? In Afrika, aber doch nicht bei uns. Doch, sehr wohl auch bei uns: die Armut kriecht durch jede noch so kleine Ritze. Im Wohnblock, in dem Schulzimmer, in den Salon des Coiffeurs, im Lieblingsrestaurant, auf die Baustelle nebenan, im Betrieb des Nachbars. Die Armut ist überall und auch unsichtbar – doch es gibt sie!
Immer mehr arme Rentner/in
Aus diesen Zahlen lässt sich ableiten, dass Frauen im Rentenalter besonders oft von Armut betroffen sind. Viele Frauen arbeiten zumindest im zweiten Teil ihrer beruflichen Karriere Teilzeit, sie steigen als Mütter aus dem Arbeitsprozess aus und später wieder ein, und bezahlen entsprechend weniger Beiträge in die berufliche Vorsorge ein. Lange Baby- und Erziehungspausen schlagen später auf dem Rentnerkonto nieder, sie kümmern sich unentgeltlich um die Kinder und pflegen oftmals andere Angehörige.
Ausserdem sind sie häufig schlechter entlöhnten "Frauenberufen" tätig und verdienen auch in gut bezahlten Jobs schlechter als ihre männlichen Kollegen. Die Benachteiligung im Erwerbsleben, welcher Art auch immer, führt zu finanziellen Benachteiligungen im Rentnerdasein.
Leben am Rande des Existenzminimums
Was es konkret heisst, an der Grenze es Existenzminimums zu leben, zeigt sich am Beispiel der heute 81-jährigen Klara. Sie arbeitete bis zur Geburt des ersten Kindes 100 %, stieg dann aber aus dem Beruf aus. 12 Jahre später, kurz nach der Geburt des dritten Kindes, kam es zur Scheidung. Die Pensionskassengelder waren auf mirakulöse Weise verschwunden. Die Alimentenzahlungen des Ex-Mannes blieben die meiste Zeit aus, Klara H. begann wieder zu arbeiten, zuerst Teilzeit, später und bis zur Pensionierung Vollzeit. Im Rentenalter konnte sie noch länger im Beruf bleiben. Schlussendlich ging sie mit 65 in Rente. Ihr zu Verfügung stehendem Geld heisst das für sie heute monatlich: Eine AHV-Rente von 2100 Franken und 150 CHF aus der beruflichen Vorsorge. Um über die Runden zu kommen, erhält sie 650 CHF EL.
Nun lässt sich argumentieren, dass man mit knapp 3'000 CHF im Monat nicht gezwungen ist, sich unter einer Brücke ein Obdach zu suchen. Natürlich - fragt sich nur, ob das der Anspruch im reichsten Land der Welt sein darf. Denn die Rechnung ist schnell gemacht: Ohne EL könnte sich Klara ihr bescheidenes Leben nicht finanzieren.
Die Kosten für Ergänzungsleistungen haben sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt, auch wegen der zahlreichen Pensionäre, die mit ihrer Altersvorsorge allein knapp die Miete, Krankenkasse und etwas zu Essen finanzieren können. Nichts desto trotz wollen die Gegner des Sozialstaats und Beschwörer der Eigenverantwortlichkeit nun auch bei den Ergänzungsleistungen die Schrauben andrehen. Auch hier gilt es den aus ihrer Sicht grassierenden Missbrauch einzudämmen. Als Beispiel werden dann Einzelfälle aufgezeigt, wo sich Menschen ihre Pensionskassengelder für Wohneigentum auszahlen lassen und später dann unter Umständen mittellos dastehen.
Für Klara - die ihre kargen AHV-Bezüge auch noch versteuern muss - müssen sich die nun laut werdenden Forderungen nach strengeren Regeln beim Bezug von EL wie ein Hohn anhören.